Zukunftschancen in Zeiten der Krise

Dr. Hansueli Kull

Dr. Hansueli Kull, zu Zeiten der Coronakrise schichtführender Arzt im regionalen Impfzentrum Meilen, ist überzeugt davon, dass selten über eine Krankheit (COVID-19) so viel geredet, geschrieben, Widersprüchliches behauptet und Richtiges mit Falschem vermischt wurde. Höchstens zu Beginn der Aids-Epidemie (ab 1981) konnte man eine ähnliche Welle von Fake-News beobachten. Problematisch für uns Betroffene ist, dass Epidemiologen, Infektiologen, Virologen sowie Gesundheitspolitiker und Statistiker sich sehr häufig uneinig sind. Denn für alle geäusserten Statements, Warnungen und Analysen gibt es irgendwelche unterstützende Belege und Meinungsäusserungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Spezialisten. Streitgespräche sind deshalb unvermeidbar. […]

Wir erleben die Geschichte eines Wandels, der die Zukunft verändern wird.

In seinem Jahrbuch für gesellschaftliche Trends und Business-Innovationen analysiert Matthias Horx mit ausgewählten Experten und Zukunftsforscherinnen die prägendsten Entwicklungen unserer Zeit und liefert gewohnt provokante Thesen, die neue Perspektiven auf die Welt eröffnen. Er stellt die Frage in den Raum: «Was passiert, wenn eine globale, überbeschleunigte, hypervernetzte Gesellschaft mitten im Lauf von einem Virus gestoppt wird?»

Alles kann passieren. Massenarbeitslosigkeit. Verarmung. Sozialer Zerfall. Wirtschaftskrise. Wahn und Terror. Bürgerkrieg. Der Zusammenbruch der Demokratie. So jedenfalls befürchteten es viele, im Frühling des Jahres 2020, als alles begann. 

Was aber ist wirklich passiert? Nach Horx‘ Interpretation hängt das davon ab, was wir wahrnehmen…! Wenn eine Krise beginnt, entsteht in unserem Innersten ein als unangenehm empfundener Gefühlszustand. Zwischen den Ansprüchen an die Wirklichkeit und der erlebten Realität klafft plötzlich eine riesige Lücke. In diesem Spalt entsteht eine tiefe existentielle Verunsicherung. Man ist geneigt auszurufen: «Das kann doch nicht wahr sein»! Kennen wir das Gefühl «Die Welt ist nicht, wie sie sein soll? Sie entspricht nicht unseren Vorstellungen?» Aber trotzdem geht das Leben weiter. Ungewohnt. Anders. Fremd. Herausfordernd.

Wenn wir uns Krisen stellen, öffnet sich ein Möglichkeitsraum.

Wir erleiden Verluste, von denen wir glaubten, sie unmöglich verkraften zu können. Es kann aber auch passieren, dass das, was wir entbehren, uns plötzlich gar nicht wirklich fehlt. Dass wir verblüfft sind, weil wir das, wovon wir uns furchtbar abhängig fühlten, gar nicht wirklich brauchen. Wir erfahren, dass wir auch anders können. So entsteht ein Moment von echter Freiheit – in uns selbst. Von Neuwerden.

Oder aber wir verbittern. Verhärten uns in Hass und Wut und Abwehr. Drehen durch. Das Corona-Leugner-Syndrom: Menschen, die sich in der Welt (und in sich selbst) nicht zuhause fühlen, fallen in eine infantile Trotzphase zurück. Sie weigern sich, die Realität der Krise anzuerkennen. Sie nutzen die Krise, um ihre Ängste zu inszenieren. Und dabei ganz gross herauszukommen.

«Das Gute an Krisen ist, dass sie Bewegungen anstossen, die vorher undenkbar schienen.»

Mit Krisen ist es ein bisschen so wie mit der Trauer. Sie hat verschiedene Phasen: Leugnung, Ignoranz, Wut und Zorn. Schliesslich Akzeptanz, Verhandlung, Neubeginn. Die Selbst-Neu-Erfindung in einer veränderten Realität. Die Selbst-Verwandlung Richtung Zukunft.

Wie weit sind wir damit?

Trendforscher Matthias Horx führt dazu weiter aus: Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus dem sich explosionsartig verbreitenden Megatrend Konnektivität. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschliessungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Globalisierung. Sondern zu einer Neuorganisation der Verbindungen, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. 

Blickt nach vorn: Matthias-Horx

Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schliessung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden.

Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn: Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet. […] 

Freundschaften inmitten einer gewaltigen Turbulenz

Freundschaften haben in der Krise grosse Bedeutung erlangt. Nicht wenige Menschen haben alte Freundschaften wiederbelebt, alte Kontakte aktiviert, die für ihr Leben wichtig waren. „Ich habe Menschen wiedergetroffen, die ich seit Jahren aus den Augen verloren hatte”, hört man allenthalben. Beim Nachbarn, den man sich seit Jahren auf Distanz gehalten hatte, bleibt man plötzlich stehen, hält ein Schwätzchen und muss sich eingestehen, dass er gar nicht so unsympathisch ist, wie man ihn bisher wahrgenommen hatte. „Dabei wird man förmlich dazu gezwungen, sich noch einmal selbst zu befragen – was man geworden ist.”

Freundschaft ist die soziale Synthese zwischen Freiheit und Bindung. Eine Krise wie Corona klärt, wer wirklich wichtig ist in unserem Leben. Sie ordnet unser Beziehungsnetzwerk neu. Wir verlassen diejenigen, mit denen wir längst in einem seelischen Lockdown gefangen waren. Wir prüfen, was uns wirklich bindet. Das kann auch für die Arbeitswelt gelten. Plötzlich sitzen wir dem Chef in T-Shirt oder offenem Hemd vor dem unordentlichen Bücherregal im Arbeitszimmer gegenüber. Virtuell versteht sich. 

Man kommt sich trotz physischer Distanz näher. Die Freundschaft verstärkt sich. Das klärt vieles. Klärung ist das Wesen der Krise […].  Soweit der Trendforscher Matthias Horx.

Wo Licht ist, ist auch Schatten.

Hatte sich das Hamsterrad vor Corona – für nicht wenige von uns – zu schnell gedreht? Und hat uns das Tempo nicht selten an unsere Leistungsgrenze gebracht? […]

Während ältere Menschen soziale Kontakte auf dem Höhepunkt der Krise schmerzlich vermissten, waren Teile der Bevölkerung im mittleren Alter durchaus nicht unglücklich darüber, dass sie einfach mal zur Besinnung kommen konnten. Sich zu entschleunigen, sich nicht permanent entscheiden zu müssen zwischen Beruf, Familie und Social Life. 

Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story,

ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020, so prognostizierte Matthias Horz nach Ausbruch der Krise, wird der CO&sub2;-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.

Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.

Aber sie kann sich neu erfinden.


System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!

So geht Zukunft. 

Quellenhinweise:

Zukunftsaspekte – Trendforscher Matthias Horx

www.horx.com

www.zukunftsinstitut.de

Covid-19-Aspekte – Dr. Hans Ulrich Kull

Dr. med.Hans-Ulrich Kull ist Hausarzt, ex Präsident des Seniorenvereins Küsnacht und Vorstandsmitglied des Zürcher Senioren- und Rentnerverbandes ZRV

Kleines Foto: senorweb.ch Grosses Beitragsfoto: Arztvortrag vom 21. November 2019

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert